Osteuropäischen Frächtern bleibt eigentlich nur übrig, die Reform zu unterlaufen
Nach einem dreijährigen Ritt durch die Instanzen wurde in der EU-Bürokratie ein Reformpaket zur Besserstellung von Beschäftigten verabschiedet. Die Einzelheiten hören sich nach lupenreiner Humanität an: bessere Erholungsmöglichkeiten in richtigen Hotels, regelmäßige Rückfahrt in die Heimat, Kontrolle durch elektronische Fahrtenschreiber – wunderbar. Künftig muss kein Bulgare mehr im Lkw übernachten und aus der Dose essen. Aber wird man das auch umsetzen? Und hat man diejenigen gefragt, die man mit solchen Segnungen zwangsbeglückt?
Die Lebens- und Arbeitsbedingungen sind, ebenso wie das Lohnniveau, in den Staaten des europäischen Subkontinents nach wie vor sehr verschieden. Die Arbeits- und Leistungsmigration osteuropäischer Arbeitnehmer und Unternehmen hat, sehr vereinfacht gesagt, den schlichten Grund, dass man im Westen mehr verdient. Hinzu kommt oft, dass es in den Herkunftsländern aufgrund ihrer geringeren Wirtschaftsleistung weniger Bedarf gibt, gleichzeitig ist das Angebot an Arbeitskräften höher. Nicht nur Frachtfahrer, sondern auch Erntehelfer, Pflegekräfte und viele andere orientieren sich daher nach Westen. In Rumänien beispielsweise hat dies dazu geführt, dass zahlreiche Kinder von ihren Eltern zurückgelassen werden, wenn diese für längere Zeit, sogar jahrelang, nach Spanien gehen.
Druck auf das Lohngefüge
Für Kunden in den westlichen Ländern ergibt sich daraus der Vorteil, auf günstigere Angebote zugreifen zu können, was wiederum Druck auf das westliche Lohngefüge verursacht. Wer weniger zahlt, der nimmt in Kauf, dass an irgendeiner Stelle gespart wird. Im Fall der Transporteure aus Osteuropa wird weitgehend an der Bequemlichkeit des Aufenthalts gespart, außerdem am Mitarbeiterschutz (Pausenzeiten). Jedem sollte diese Tatsache klar sein. Die Arbeitnehmer aus den östlichen Nachbarländern lassen sich darauf ein, weil sie nur eingeschränkte Auswahlmöglichkeiten haben und weil sie diese Arbeitsbedingungen aus ihren Heimatländern, in denen sie der Standard sind, gewohnt sind.
Dieses Lohn- und Qualitätsgefälle erlaubt es Unternehmen, den finanziellen Unterschied als Gewinn zu nutzen, und die Firmen, die das tun, sind keineswegs nur in osteuropäischer Hand. Ungünstige Arbeitsbedingungen auszunutzen, ist kein schönes Modell. Aber wenn man die Darstellung dieses Komplexes allein auf die Mär vom bösen Unternehmer einengt, der den armen Mitarbeiter ausbeutet, dann zeigt man eben nur einen Aspekt von vielen. Ein anderer Aspekt ist nämlich, dass diese Art von Arbeit für manche, die ihr nachgehen, nicht nur die einzige Option darstellt, sondern sogar attraktiv ist. Aus dem Elfenbeinturm linker Perspektive heraus betrachtet, können aber jegliche Verhältnisse in Osteuropa immer nur als verbesserungspflichtig erscheinen. Dass diese Verbesserungen auch diesmal wieder von West nach Ost exportiert werden, sieht nicht nur für die betroffenen Länder ein bisschen nach expandierender Moral aus. Die mag zwar Gutes wirken, aber sie vergrößert die Spannungen zwischen den europäischen Interessenbereichen noch mehr.
Das bedeutet nicht, dass man diese Missstände nicht ändern sollte, und solche Vorstöße der EU-Bürokratie sind prinzipiell ein Schritt in die richtige Richtung. Es stellt sich nur die Frage, wieso die osteuropäischen Länder gegen diese sinnvollen Verbesserungen so vehement protestiert haben und wieso man deren Einwänden zum Trotz die neuen Regelungen durch Überstimmen der Kritiker durchgedrückt hat. Wenn nämlich die Unternehmen aus diesen Ländern im Westen tätig sein wollen und dabei auf die Einhaltung westlicher Arbeitsstandards verpflichtet werden, können sie es im Grunde gleich bleiben lassen. Sie werden mit den neuen Vorgaben nicht wirtschaftlich arbeiten können, ihre Leistungen werden verteuert und dadurch wird ihre Marktposition geschwächt. Aus diesem Grund sprechen Kritiker von Protektionismus.
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